Ja, ich bin Christ. Aber…
Mein Christsein drückt sich nicht in der Häufigkeit meiner Gottesdienstbesuche aus. Mein Christsein zeigt sich nicht im regelmäßigen Lesen der Bibel. Mein Christsein zeigt sich nicht im Versuch, andere zu missionieren. Es zeigt sich nicht in der Reinheit meiner Seele oder der Abwesenheit von Schuld. Und es zeigt sich nicht darin, dass mich Pastoren oder Pfarrer im Namen Gottes von meinen Sünden freisprechen können.
Es ist nicht Zeichen meines Christseins, die andere Wange hinzuhalten, wenn man mir auf die rechte schlägt. Aber es bedeutet auch nicht, Gewalt mit gleicher Gewalt zu vergelten. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ist nicht immer Ausdruck meines Christseins, denn es gibt Menschen, die diese Liebe nicht verdienen. Sie treten mit Füßen, was die Schöpfung hervorgebracht hat, säen Zwietracht, Terror und Hass. Solche Menschen kann ich nicht lieben. Ihnen begegne ich mit unchristlicher Verachtung. Aber wenn sie erkennen, was sie getan haben, und den Weg der Wertschätzung des Lebens wiederfinden, bin ich bereit, ihnen mit christlicher Vergebung zu begegnen.
Es gibt auch Menschen, die mehr Liebe verdienen, als ich in manchen Momenten mir selbst geben kann. Sie verdienen mehr als nur meine Nächstenliebe.
Mein Christsein zeigt sich im Dienst an anderen Menschen – durch direkte Hilfe oder durch Akzeptanz ihrer Taten, Gedanken, Religion oder Herkunft. Sollte es einen Gott geben, denke ich, dass er es wichtiger finden würde, den Menschen zu dienen, als von ihnen Ehrerbietung zu erwarten.
Mein Christsein zeigt sich darin, dass ich das mir gegebene, wunderbare und einzigartige Leben respektvoll nutze – um zu hinterfragen, zu zweifeln und zu interpretieren. Es zeigt sich in meiner Toleranz gegenüber anderen und in der Akzeptanz ihrer Sichtweisen, solange diese nicht aus einer radikalen, fundamentalistischen oder menschenverachtenden Denkrichtung stammen.
Mein Christsein zeigt sich darin, dass ich für meine Fehler nicht nach Absolution bei Dritten oder Höheren suche, sondern dort um Vergebung bitte, wo ich mit meinen Fehlern anderen Schaden zugefügt habe. Es zeigt sich vor allem im Wunsch, weder meinem Nächsten noch mir selbst Schaden zuzufügen.
Mein Christsein zeigt sich darin, dass ich den, der mich verletzt hat, darauf hinweise, dass er mir Schaden zugefügt hat. Ich weise ihn darauf hin, dass er einen falschen Weg eingeschlagen hat, und gebe ihm die Chance, sich zu entschuldigen und zurückzukehren auf den Weg der Achtsamkeit.
Mein Christsein erlaubt es mir, trotz des Balkens in meinem eigenen Auge auf den Splitter im Auge meines Bruders hinzuweisen, damit auch er klarer sehen kann und ich mich von meiner eigenen Schwäche befreie.
Fast 50 Jahre bin ich in einem christlichen Land erwachsen geworden. Das Rüstzeug der christlichen Erziehung, das mir von Eltern, Lehrern und der Kirche vermittelt wurde, habe ich dankbar angenommen, um mein Leben zu führen und zu gestalten.
Für mich beschränkt sich mein Christsein vielleicht auf den respektvollen Umgang mit meinen Mitmenschen, auf Achtsamkeit gegenüber allem Leben und der Schöpfung. Es gründet auf Toleranz, Respekt und Liberalismus, auf der Achtung vor der Demokratie. Wenn aber jeder Christ – und jeder Anhänger anderer Religionen – sein Denken und Handeln danach ausrichten würde, und wenn religiöse Schriften nicht zum Selbstzweck erhoben würden, wäre die Welt ein besserer und friedlicherer Ort.
Vielleicht mag es bequem erscheinen, sich seine Religion selbst zu interpretieren. Aber es ist besser, als sich keine Gedanken darüber zu machen. Vielleicht ist es bequem, sich eigene Fehler einzugestehen und zuzulassen. Aber es ist besser, als sich an Worte heiliger Schriften zu klammern, die aus einer ganz anderen Zeit stammen und, wenn sie zu eng ausgelegt werden, viele Wege zu einem erfüllten Leben versperren können. Vielmehr sollten diese Schriften ihre ethische Aussagekraft auf die heutige Zeit übertragen und im täglichen Leben umgesetzt werden.
Ein achtsamer, respektvoller und toleranter Umgang mit uns selbst, mit anderen Menschen und mit der Umwelt – das Erkennen von Fehlern bei uns und anderen, das Eingestehen und Verzeihen dieser Fehler und der Versuch, Schaden zu vermeiden – das ist der Schlüssel zu einem zufriedenen Leben. So gehe ich ohne schlechtes Gewissen und mit aufrechtem Gang durchs Leben und kann mich im Spiegel anschauen und mir sagen: „Ich mag mich, und ich bin stolz darauf, Christ zu sein.“
Diese Worte sind meine Gedanken und Überzeugungen und sollen nicht als Verurteilung derer verstanden werden, die ihre christliche Überzeugung anders auslegen und leben. Sie sind vielmehr ein Appell an Verständnis und Toleranz für jene, die glauben, dass Religionen, ganz gleich welcher Bekenntnisrichtung, in Einklang mit Liberalismus und einer respektvollen Weltanschauung stehen sollten.